Urteil Bundesgericht 4A_141/2017 vom 4. September 2017 (= 143 III 495)

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Amtlicher Leitsatz: Art. 108 Ziff. 1, 107 Abs. 2 OR; unverzügliche Verzichtserklärung.

Im Grundsatz ist auch in einem Fall von Art. 108 Ziff. 1 OR eine unverzügliche Verzichtserklärung im Sinne von Art. 107 Abs. 2 OR erforderlich. Beruft sich der Schuldner auf deren Fehlen, kann dies im Einzelfall allerdings treuwidrig sein (E. 4.3.1 und 4.3.2).

Erwägungen

4. […]

4.2. Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz verletze Bundesrecht, indem sie Art. 107 Abs. 2 OR derart auslege, dass eine unverzügliche Rücktrittserklärung erforderlich sei. […]
Was unter „unverzüglich“ zu verstehen ist, ergibt sich aufgrund der Beurteilung der konkreten Vertragslage und der Parteiinteressen. Mit dem Erfordernis der unverzüglichen Verzichtserklärung bezweckt das Gesetz den Schutz des säumigen Schuldners: es will damit die Spekulation auf dessen Kosten durch den Gläubiger nach Ablauf der Nachfrist verhindern. Der Schuldner soll wissen, woran er ist, ob er noch erfüllen muss und entsprechende Vorbereitungen zu treffen hat oder nicht (BGE 96 II 47 E. 2 S. 50 f.; zit. Urteile 4A_232/2011 E. 5.3; 4A_603/2009 E. 2.4 und 4C.58/2004 E. 3.3; ROLF H. WEBER, Berner Kommentar, 3. Aufl. 2000, N. 142 zu Art. 107 OR; WOLFGANG WIEGAND, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht I, 6. Aufl. 2015, N. 14 zu Art. 107 OR; GAUCH/SCHLUEP/EMMENEGGER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Bd. II, 10. Aufl. 2014, S. 133 Rz. 2760). Ohne entsprechende Mitteilung bleibt der Vertrag unverändert bestehen; insbesondere ist weiterhin die primäre Leistung (plus Verzugsschaden) geschuldet (vgl. Art. 107 Abs. 2 OR).
Die Verhinderung der Spekulation durch den Gläubiger ist somit ein Gesichtspunkt, aber nicht der einzige. Es geht auch darum, klare Verhältnisse und Sicherheit zu schaffen. Gerade der vorliegende Fall illustriert dieses Bedürfnis des Schuldners, hat sich doch die Beschwerdegegnerin mit E-Mail vom 20. August 2014 erkundigt, ob sie personelle Ressourcen für September und Oktober 2014 reservieren solle. Wie diese E-Mail zeigt, liess die Beschwerdeführerin die Beschwerdegegnerin im Ungewissen und diese konnte nicht planen – deren Interesse an einer unverzüglichen Erklärung liegt auf der Hand. Die Beurteilung der Vorinstanz, dass die Verzichtserklärung nach rund drei Monaten nicht „unverzüglich“ i.S.v. Art. 107 Abs. 2 OR war, ist nicht zu beanstanden. […]

4.3.1 Wie bereits die Vorinstanz erwähnte, wird die Frage, ob auch in den Fällen nach Art. 108 OR eine unverzügliche Verzichtserklärung erforderlich ist, in der Lehre unterschiedlich beantwortet. So verlangen namentlich folgende Autoren eine unverzügliche Verzichterklärung auch im Fall von Art. 108 Ziff. 1 OR: EUGEN BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1988, S. 375 (nicht aber für die Fälle von Art. 108 Ziff. 2 und 3 OR); WOLFGANG WIEGAND, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 6. Aufl. 2015, N. 8 zu Art. 108 OR; GAUCH/SCHLUEP/EMMENEGGER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Bd. II, 10. Aufl. 2014, S. 133 Rz. 2761; PIERRE ENGEL, Traité des obligations en droit suisse, 2. Aufl. 1997, S. 732. Denn selbst wenn der Schuldner unmissverständlich erkläre, dass er nicht leisten werde, sei damit nicht gesagt, dass sich die Gläubigerin diesen Gegebenheiten unterziehe und nicht eine Erfüllungsklage erhebe; es bedürfe deshalb der mit der Verzichtserklärung bezweckten Klarstellung. Andere Autoren sind ohne weitere Differenzierung betreffend die verschiedenen Tatbestände des Art. 108 OR, jedenfalls aber für den Fall gemäss Art. 108 Ziff. 1 OR, der Auffassung, es bedürfe keiner unverzüglichen Verzichtserklärung; der Verzicht könne solange erklärt werden, wie die Leistungsverweigerung anhalte (FURRER/WEY, in: Obligationenrecht, allgemeine Bestimmungen, in: Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, 3. Aufl. 2016, N. 23 zu Art. 108 OR; ANDREAS THIER, in: OR, Heinrich Honsell [Hrsg.], 2014, N. 5 zu Art. 108 OR; LUC THÉVENOZ, in: Commentaire romand, Code des obligations, Bd. I, 2. Aufl. 2012, N. 20 zu Art. 107 OR; ALFRED KOLLER, Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2009, S. 909 f. § 55 Rz. 126 f.; ROLF H. WEBER, Berner Kommentar, 3. Aufl. 2000, N. 52 zu Art. 108 OR [allfälligen Spekulationsabsichten des Gläubigers könne der Schuldner durch nachträgliche Leistung entgegenwirken]; FRANZ SCHENKER, Die Voraussetzungen und die Folgen des Schuldnerverzugs im Schweizerischen Obligationenrecht, 1988, S. 208 f. Rz. 567; BRUNO VON BÜREN, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 1964, S. 375), wobei sich viele dieser Autoren auf BGE 76 II 300 und BGE 69 II 243 berufen.

4.3.2 Es trifft zu, wie die Vorinstanz darlegte, dass das Bundesgericht sich in verschiedenen Entscheiden für die Notwendigkeit einer unverzüglichen Verzichtserklärung auch in den Fällen von Art. 108 Ziff. 1 OR aussprach. Das Gesetz bezwecke mit dem Erfordernis der Unverzüglichkeit der Verzichtserklärung den Schutz des säumigen Schuldners. Es widerspräche der ratio legis, wenn der vertragstreue Teil im Fall der Leistungsverweigerung durch den Schuldner, d.h. in einem Fall von Art. 108 Ziff. 1 OR, die Verzichtserklärung während der Dauer des Verzugs beliebig hinausschieben dürfte (BGE 54 II 30 S. 33 f.; Urteile 4A_232/2011 vom 20. September 2011 E. 5.3; 4C.58/2004 vom 23. Juni 2004 E. 3.3). In anderen Entscheiden wurde davon ausgegangen, bei einer eindeutigen Leistungsverweigerung des Schuldners i.S.v. Art. 108 Ziff. 1 OR könne vom Gläubiger keine unverzügliche Verzichtserklärung verlangt werden. In einem solchen Fall komme der Ausübung des Wahlrechts durch den Gläubiger keine praktische Bedeutung zu, denn die Realerfüllung falle infolge der Erfüllungsverweigerung durch den Schuldner ausser Betracht. Ein Schuldner, der dem Gläubiger in einem solchen Fall die fehlende unverzügliche Verzichtserklärung entgegenhalte, verhalte sich widersprüchlich und gegen Treu und Glauben (BGE 48 II 220 E. 2 S. 224 f.; 76 II 300 E. 2 S. 304 f.; Urteil 4A_603/2009 vom 9. Juni 2010 E. 2.4; vgl. auch BGE 69 II 243 E. 5 S. 245 f.).
Entgegen dem, was die Vorinstanz anzunehmen scheint, ist nicht zwischen einer älteren und einer jüngeren Rechtsprechung zu unterscheiden. Vielmehr differieren die beurteilten Situationen im Sachverhalt, wie sich namentlich aus den publizierten Entscheiden ergibt. Aufgrund der Gegebenheiten des Einzelfalls gelangte in einigen Fällen eine Ausnahme von der allgemeinen Regel zur Anwendung, während in den anderen der Grundsatz zum Zuge kam. Widersprüchlich und gegen Treu und Glauben verhält sich nur jener Schuldner, der seine eigene Leistung klar, definitiv und bedingungslos verweigert und sich dann auf die fehlende unverzügliche Verzichtserklärung des Gläubigers beruft. Durch seine Haltung nimmt der Schuldner dem Gläubiger faktisch die Möglichkeit, mit Aussicht auf Erfolg an der Realerfüllung festzuhalten, wodurch dieser praktisch gar nicht mehr zwischen Erfüllung der primären Leistungspflicht und Verzicht darauf wählen kann (z.B. Annullation der Bestellung durch den Schuldner, da der Fabrikant nicht liefern könne, BGE 76 II 300 Sachverhalt lit. A S. 301 und E. 2 S. 305). Anderseits wurde in BGE 54 II 30 S. 32 unter Bezugnahme auf BGE 48 II [220 E. 2 S.] 224 f. abgegrenzt und zutreffend festgestellt, es liege kein vergleichbarer Tatbestand einer Treuwidrigkeit vor, da im zu beurteilenden Fall die Schuldnerin die Lieferung nicht schlechthin verweigere, sondern (nur, wenn auch zu Unrecht) unter den von der Gegenpartei gesetzten Bedingungen (Vorleistung). In einem solchen Fall besteht das Bedürfnis, dass die Gläubigerin klar und unverzüglich erklärt, ob sie an der Erfüllung festhält oder auf diese verzichtet; die Schuldnerin verhält sich diesfalls nicht treuwidrig, wenn sie sich auf das Fehlen einer entsprechenden Erklärung beruft.
Vorliegend bestand nach der eigenen Darstellung der Beschwerdeführerin keine derart eindeutige Situation, die eine Berufung der Beschwerdegegnerin auf eine unverzügliche Verzichtserklärung als treuwidrig erscheinen liesse. Die Beschwerdeführerin hätte daher den Rücktritt mit Verzicht auf die Leistung unverzüglich erklären müssen. Selbst wenn in einem Fall von Art. 108 Ziff. 1 OR an die Unverzüglichkeit weniger strenge Anforderungen zu stellen sein sollten als in einem Fall von Art. 107 Abs. 1 OR (dahingehend BGE 54 II 30 S. 34; im Ergebnis wohl so zit. Urteil 4A_232/2011 E. 5.4), wäre die Erklärung der Beschwerdeführerin verspätet erfolgt. Denn jedenfalls spätestens nach der Anfrage der Beschwerdegegnerin vom 20. August 2014 bezüglich Planung der personellen Ressourcen hätte umgehend der Verzicht erklärt werden müssen; dies geschah aber erst einen (weiteren) Monat später. Im Ergebnis ist daher der Vorinstanz zuzustimmen, dass die Beschwerdeführerin mit ihrer Erklärung vom 22. September 2014 unberechtigterweise vom Vertrag zurückgetreten ist. […]

Quelle: www.bger.ch

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