Urteil BGer 4A_115/2020 vom 22. September 2020

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Nicht amtliche Leitsätze: Voraussetzungen für das Vorliegen eines nicht wieder gutzumachenden, drohenden Nachteils im Hinblick auf ein beantragtes vorsorgliches Verbot künftiger Rechtsverletzungen bei widerrechtlicher Übernahme von Programmdateien (E. 1.3)

Sachverhalt:
A. A.a. Die A. […] (Klägerin, Gesuchstellerin, Beschwerdeführerin) ist ein Technologieunternehmen, […]. B. […] (Beklagter, Gesuchsgegner, Beschwerdegegner) ist Inhaber des im Handelsregister eingetragenen Einzelunternehmens B.________. Er betreibt ein Ingenieurbüro für industrielle Elektronik. […]
B. Mit Eingabe vom 1. März 2019 reichte die Gesuchstellerin beim Handelsgericht des Kantons St. Gallen eine Klage gegen den Gesuchsgegner wegen Urheberrechtsverletzung, unlauterem Wettbewerb und Vertragsverletzung ein und beantragte gleichzeitig den Erlass vorsorglicher Massnahmen:
„1. Der Beklagte sei unter Androhung der Bestrafung mit Busse gemäss Art. 292 StGB sowie einer Ordnungsbusse von Fr. 1’000.00 pro Tag der Nichterfüllung, mindestens aber Fr. 5’000.00 gemäss Art. 343 Abs. 1 lit. b ZPO im Widerhandlungsfall zu verbieten:
a) die Datei „…“ ganz oder teilweise zu kopieren, zu ändern und in andere Computerprogramme zu integrieren;
b) die Programmfunktionen „…“, „…“, „…“, „…“, „…“, „…“, „…“, „…“, „…“ und „…“ ganz oder teilweise zu kopieren, zu ändern und in andere Computerprogramme zu integrieren;
c) die in Anhang A aufgeführten Programmdateien der K.________-Software ganz oder teilweise zu kopieren, zu ändern und in andere Computerprogramme zu integrieren, und
d) Programmfunktionen und Programmdateien gemäss Rechtsbegehren Nr. 1.a, b und c sowie geänderte Fassungen davon ganz oder teilweise Dritten zugänglich zu machen und weiterzugeben.
[Anträge zum Hauptverfahren]
7. Das Rechtsbegehren Nr. 1 sei für die Dauer des Verfahrens vorsorglich anzuordnen.“ […].
B.b. Mit Entscheid vom 24. Januar 2020 wies der Handelsgerichtspräsident des Kantons St. Gallen das Massnahmegesuch ab […].
C. Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Gesuchstellerin dem Bundesgericht, es sei der Entscheid des Handelsgerichtspräsidenten des Kantons St. Gallen vom 24. Januar 2020 aufzuheben und es seien die gestellten Massnahmebegehren gutzuheissen. […]

Erwägungen:

1. […]

1.2. Entscheide über vorsorgliche Massnahmen gelten nur dann als Endentscheide im Sinne von Art. 90 BGG, wenn sie in einem eigenständigen Verfahren ergehen. Selbständig eröffnete Massnahmeentscheide, die vor oder während eines Hauptverfahrens erlassen werden und nur für die Dauer des Hauptverfahrens Bestand haben bzw. unter der Bedingung, dass ein Hauptverfahren eingeleitet wird, stellen Zwischenentscheide im Sinne von Art. 93 BGG dar (BGE 144 III 475 E. 1.1.1; 138 III 76 E. 1.2, 333 E. 1.2; 137 III 324 E. 1.1 S. 327 f.). Der angefochtene Entscheid schliesst das Verfahren nicht im Sinne von Art. 90 BGG ab; vielmehr geht es um eine im Rahmen des Hauptverfahrens beantragte vorsorgliche Massnahme, die während der Dauer dieses Verfahrens Bestand haben soll. Es handelt sich somit um einen Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG.

Gegen solche Entscheide ist die Beschwerde nur zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Dabei muss es sich um einen Nachteil rechtlicher Natur handeln, der auch durch einen für die beschwerdeführende Partei günstigen Entscheid in der Zukunft nicht mehr behoben werden kann (BGE 144 III 475 E. 1.2 S. 479; 143 III 416 E. 1.3; 142 III 798 E. 2.2 S. 801). Rein tatsächliche Nachteile wie die Verlängerung oder Verteuerung des Verfahrens reichen nicht aus (BGE 144 III 475 E. 1.2 S. 479; 142 III 798 E. 2.2 S. 801; 141 III 80 E. 1.2; je mit Hinweisen). Es obliegt der beschwerdeführenden Partei darzutun, dass ein nicht wieder gutzumachender Nachteil droht (BGE 144 III 475 E. 1.2; 142 III 798 E. 2.2 S. 801 mit Hinweisen).

1.3. Wie die Beschwerdeführerin zutreffend vorbringt, erschöpft sich der von ihr geltend gemachte drohende Nachteil nicht in einer blossen Verlängerung oder Verteuerung des Verfahrens. Sie verlangt mit ihren Massnahmebegehren nicht etwa die vorsorgliche Beseitigung der Wirkung bereits erfolgter Urheberrechts-, UWG- und Vertragsverletzungen, sondern das vorsorgliche Verbot künftiger Rechtsverletzungen, die sich durch ein für sie günstiges Urteil in der Hauptsache nicht beseitigen liessen. So könnte die Offenbarung von Geheimnissen in Form der Weitergabe an Dritte (Antrags-Ziffer 1d) durch ein späteres Urteil nicht rückgängig gemacht werden. Aber auch in Bezug auf die weiteren vom beantragten Verbot erfassten Handlungen (Antrags-Ziffer 1a-c) kann der konkret drohende Nachteil nicht durch einen für die Beschwerdeführerin günstigen Entscheid in der Zukunft angemessen beseitigt werden, zumal es sich bei den angeblich vom Beschwerdegegner verwendeten Programmfunktionen der strittigen Software um Bestandteile einer Neuentwicklung handelt, für die Umsatz- und Gewinnzahlen fehlen. Zudem ist mit der Beschwerdeführerin davon auszugehen, dass das Motiv der Kundschaft für die Wahl von Konkurrenzprodukten, die unter Verwendung geschützter Softwarebestandteile hergestellt wurden, nicht nachweisbar sein dürfte. Unter diesen Umständen ist entgegen der Ansicht des Beschwerdegegners nicht zu erwarten, dass der drohende Nachteil durch Schadenersatz, Genugtuung oder Gewinnherausgabe zu beseitigen ist (vgl. bereits Urteil 4A_381/2019 vom 2. Dezember 2019 E. 1.1.4).

Auf die Beschwerde ist demnach unter Vorbehalt hinreichender Begründung (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG) einzutreten.

2. […]“