Urteil des Handelsgerichts Zürich vom 6. September 1996

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Nicht amtlicher Leitsatz: Bei einem EDV-Vertrag ist die Entwicklung von individueller Software als werkvertragliches Element zu betrachten; auf die Leistungsstörung finden bei engem Zusammenhang zwischen Standard- und Individual-Software die werkvertraglichen Gewährleistungsregeln Anwendung. Fehlende Funktionen sind als Nichterfüllung zu qualifizieren. Fehlende Benutzerdokumentation ist als Sachmangel zu qualifizieren. Erheblichkeit des Mangels bei fehlender Dokumentation.

Zusammenfassung des Sachverhalts: Die Klägerin ist ein Softwareunternehmen im Bereich, Handel, Beratung, Installation und Wartung, welches sich auf Softwareprodukte für Banken spezialisiert hat. Bei der Beklagten handelt es sich um die Tochtergesellschaft einer ausländischen Bank. Die Klägerin war beauftragt worden, für das Treasury Department der Beklagten eine neue Software zu liefern.
Die Klägerin klagte auf Bezahlung der Softwareprodukte; die Beklagte machte geltend, den Vertrag aufgelöst zu haben und forderte in der Widerklage Schadenersatz.

Aus den Erwägungen:
(…)
Eine genauere rechtliche Qualifikation der gesamten Vereinbarung der Parteien vorzunehmen, erscheint nicht als notwendig. Jedenfalls wird die Entwicklung von individueller Software als ein werkvertragliches Element zu sehen sein (Walter Schluep, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Basel 1992, Einleitung vor Art. 184ff., N 261) und für die in casu zu beurteilenden Leistungsstörungen werden, ob im Bereiche der Standard- oder der Individual-Software, beim gegebenen engen Zusammenhang, einheitlich die werkvertraglichen Gewährleistungsregeln zur Anwendung zu bringen sein (Ursula Widmer, Risikoverteilung bei Informatikprojekten: Haftung für Softwaremängel bei Planung und Realisierung von Informationssystemen, Zürich 1990, S. 114).
(…)
– Fehlende Dokumentation. Die Beklagte bemängelt betreffend der Dokumentation, dass nur das „Reference F.“ vom 21. Oktober 1991 und 10. Januar 1992 aktualisiert worden sei. Die technische Dokumentation fehle. (…) Die Beklagte trüge die Beweislast für die von ihr aufgestellten Behauptungen betreffend fehlende und nicht aktualisierte Dokumentationen. Es ist dabei zu beachten, dass die Klägerin das Fehlen der technischen Dokumentation nicht bestreitet, jedoch deren Relevanz. Da Systemdokumentationen vom Begriff der Software umfasst werden und damit grundsätzlich mitzuliefern sind (Ursula Widmer, a.a.O., S. 143f.), steht allerdings bereits fest, dass die Klägerin ihren vereinbarungsgemässen Pflichten nicht vollumfänglich nachgekommen ist. In Hinblick auf das Schicksal der klägerischen Forderung würde sich nunmehr die Frage stellen, ob dieses Nichtliefern der technischen Dokumentationen als ein Nichterfüllungs- oder ein Schlechterfüllungstatbestand zu qualifizieren ist. Da bereits feststeht, dass die Hauptforderung aus den aufgezeigten Gründen nicht fällig ist, kann jedoch an dieser Stelle von weiteren Ausführungen hierzu abgesehen werden; dies umso mehr, als dass die Frage der rechtlichen Qualifikation im Zusammenhang mit der Widerklage noch zu erläutern sein wird. (…)

8. Die Beklagte ist am 15. Mai 1992 vom Vertrag zurückgetreten und macht widerklageweise Schadenersatz aus dem Dahinfallen des Vertrages geltend. Sie bringt vor, das Werk sei nicht nur mangelhaft gewesen, sondern auch unvollendet. Die Mängelrechte seien noch nicht zum Zuge gekommen. Und da eine eigene oder fremde Ersatzvornahme nicht möglich gewesen sei, sei ihr nur der Weg des Rücktrittes nach Art. 107ff. inbs. 108 bzw. nach Art. 366ff., 368 Abs. 1 OR offen gestanden. Es gilt daher, die Rechtsgrundlagen für den Rücktritt zu überprüfen.
a) Rücktritt nach Art. 368 Abs. 1 OR
aa) Leidet ein Werk an so erheblichen Mängeln oder weicht es sonst so sehr vom Vertrage ab, dass es für den Besteller unbrauchbar ist oder dass ihm die Annahme billigerweise nicht zugemutet werden kann, so darf er diese verweigern und bei Verschulden des Unternehmers Schadenersatz fordern (Art. 368 Abs. 1 OR). Vorliegend ist zunächst zu fragen, welche der von der Beklagten gerügten Fehler als Mangel und welche als Nichterfüllung zu qualifizieren wären, wenn sie tatsächlich in der von der Beklagten dargestellten Art und Umfang bestanden hätten.
Ein Werkmangel ist ein vertragswidriger Zustand des Werkes, der darin besteht, dass dem Werk eine vertraglich geforderte Eigenschaft fehlt (Peter Gauch, Der Werkvertrag, 4. Auflage, Zürich 1996, N 1356). Dabei ist bei EDV-Systemen allerdings zu beachten, dass ein absolut fehlerfreies Programm nicht existiert, weil die völlig fehlerfreie Herstellung eines Programmes einen höchst unwirtschaftlichen Aufwand bedeuten würde, von welchem die Vertragsparteien in praxi nicht ausgehen. Einzig bei einfachen Programmen kann vollständige Mängelfreiheit erwartet werden (Doris Slongo Wagen, Der Softwareherstellungsvertrag, Diss. Zürich 1991, S. 48 f.). Dies bedeutet konkret, dass nicht jeder Fehler im Informationssystem einen Mangel im Rechtssinn darstellt (Widmer, a.a.O,. S. 103). Bei Nichterfüllung dagegen wurden noch nicht alle Arbeiten ausgeführt, die nach dem konkreten Werkvertrag geschuldet sind. Solange das Werk nicht abgeliefert ist, kann keine Abnahme erfolgen und der Anspruch des Unternehmers auf den Werklohn ist noch nicht fällig (Gauch, a.a.O., N 1446 f.). Die einzelnen vorliegend als fehlend, unvollständig oder fehlerhaft gerügten Punkte sind auf diese Merkmale zu überprüfen, da die Beklagte ihren Rücktritt sowohl mit Mangelhaftigkeit als auch mit fehlender Vollendung begründet.
Sollten die von der Beklagten gerügten Punkte alle Bestandteil der Vereinbarung vom 27.3./22.5.91 gewesen sein, was nach wie vor offen bleiben kann, so wären diese rechtlich wie folgt zu qualifizieren: Bei den als fehlend gerügten Funktionen ist mit Ausnahme des Report Generators offensichtlich, dass sie als Nichterfüllung zu qualifizieren sind, da vereinbarungsgemäss zugesagte Funktionen nicht implementiert wurden. (…) Bei sämtlichen nur teilweise realisierten Funktionen würden alsdann offensichtlich Nichterfüllungstatbestände vorliegen. (…)
Bei der fehlenden technischen Dokumentation und den nicht aktualisierten Dokumentationen ergibt sich bezüglich der ersteren aus dem Kontext, dass es sich bei diesen um Benutzerdokumentationen im weiteren Sinne handelt (vgl. dazu Widmer, a.a.O., S. 144). Da Software-Systeme nicht selbsterklärend sind, kann ein EDV-System vom Anwender nicht produktiv eingesetzt werden, wenn eine Benutzerdokumentation fehlt (Widmer, a.a.O., S. 147). In Anbetracht dieser Tatsache stellt die Nichtlieferung von Benutzerdokumentationen bei derart komplexen Systemen wie dem vorliegenden eine Hauptleistungspflichtverletzung dar (Widmer, a.a.O., S. 149). Widmer postuliert, die fehlende oder unvollständige Benutzerdokumentation sei als Sachmangel zu qualifizieren, und begründet dies damit, dass aus Sicht des Benutzers das Fehlen der Dokumentation den Gebrauch des Systems beeinträchtigt, weshalb der Annahme eines Sachmangels nichts mehr im Wege stehe (Widmer, a.a.O., S. 150f.). Diese Argumentation schliesst die Annahme einer Nichterfüllung zwar nicht aus, scheint im Ergebnis aber durchaus gerechtfertigt, zumal das absolute Fehlen der Dokumentation kaum eine absolute Gebrauchsuntauglichkeit bewirken, sondern den Gebrauch des Systems lediglich – mehr oder minder, je nach Benutzer und Art des Systems – beeinträchtigen dürfte. Es sei alsdann erwähnt, dass bei Dokumentationen, welche falsche, unzureichende oder unvollständige Informationen für den Benutzer enthalten, klarerweise ein Mangel vorliegt (vgl. dazu auch Gauch, a.a.O., N 94 und 1476). Konsequenterweise muss auch eine unterlassene Aktualisierung unter den Tatbestand der Mangelhaftigkeit subsumiert werden. Es ist mithin vorliegend sowohl bezüglich der fehlenden technischen Dokumentation als auch bezüglich der angeblich nicht aktualisierten Dokumentation von einem Mangel auszugehen.
bb) Es stellt sich in Zusammenhang mit Art. 368 Abs. 1 OR nunmehr die Frage, ob bezüglich (…) der Dokumentationen ein derart erheblicher Mangel oder eine sonstige Abweichung vorliegt, welcher das Werk unbrauchbar oder dessen Annahme unzumutbar macht. Bei den übrigen als fehlend oder unvollständig gerügten Punkten erübrigt sich dies, weil es sich, wie soeben aufgezeigt, um Nichterfüllungstatbestände handelt. (…)
Was die Dokumentationen betrifft, so ist gemäss Widmer bei deren Mangelhaftigkeit die Wesentlichkeit grundsätzlich gegeben, da ohne oder bei unvollständiger Benutzerdokumentation das Informatiksystem als unbrauchbar zu qualifizieren ist. Anders liegt der Fall allerdings dann, wenn die Dokumentation vorliegt, jedoch mit Fehlern behaftet ist, die behoben werden können im Sinne einer Nachbesserung (Widmer, a.a.O., S. 151). Vorliegend geht es um teilweise fehlende und teilweise nicht aktualisierte Dokumentationen. Was letztere betrifft, so wäre eine Aktualisierung durchführ- und für beide Parteien zumutbar; Wesentlichkeit im vorerwähnten Sinne ist hier deshalb klar zu verneinen. Was die fehlende technische Dokumentation betrifft, so ist in Erinnerung zu rufen, dass die Parteien seinerzeit im Rahmen der Vertragswerke auch ein „Software Maintenance and Service Agreement“ geschlossen hatten, gemäss welchem der Unterhalt des Systems „in accordance with the User Documentation“ erfolgen sollte. Die Dokumentation war damit – entgegen der klägerischen Auffassung – nicht ohne Relevanz. Allerdings wird die Bedeutung der Dokumentation insofern abgeschwächt, als dass die Klägerin sich im Unterhaltsvertrag auch dazu verpflichtete, Personal und Dienstleistungen für den Systemunterhalt des Systems zur Verfügung zu stellen, und somit eine Verständlichkeit des Systems für Dritte in concreto nicht unabdingbar war. Auch darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass die Beklagte in keiner ihrer Rechtsschriften dartut, inwiefern das Fehlen der Dokumentation konkreten Einfluss darauf hatte, dass das System überhaupt nie in Betrieb genommen werden konnte, sondern sich in allgemeiner Art darauf beschränkt, das Fehlen als einen rechtlich relevanten Mangel zu bezeichnen. Gesamthaft betrachtet würde man die konkrete Bedeutung der Dokumentation für die Beklagte überschätzen, wollte man ihr trotz des aufgezeigten Kontextes Wesentlichkeit im Sinne von Art. 368 Abs. 1 OR zusprechen.
Somit steht fest, dass weder …, noch das Fehlen von Dokumentationen noch deren mangelnde Aktualisierung einen wesentlichen Mangel darstellen, welcher das System untauglich oder dessen Annahme unzumutbar werden liesse. Der Beklagten hätte lediglich ein Nachbesserungs- oder allenfalls ein Minderungsrecht nach Art. 368 Abs. 2 OR zugestanden, (…). Im Lichte von Art. 368 Abs. 1 OR erfolgte der Rücktritt der Beklagten jedenfalls zu Unrecht.
(…)

Quelle: Urteil
www.softwarevertraege.ch