Präsidialentscheid Obergericht des Kantons Aargau vom 31. Juli 1990/Gesuch um vorsorgliche Massnahmen („Bliss“)

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Nicht amtliche Leitsätze: Bei Neuentwicklung von ca. 95% des Programmcodes und bei der wartungsfreundlichen Neustrukturierung der Programmzeilen würde ein eigenständiges Werk im Sinne von aURG vorliegen, sofern ein Computerprogramm urheberrechtlichen Schutz genösse (Erwägung 4.a). Bedeutung der weitgehenden Übereinstimmung der Grundfunktionen und des Systemkonzepts von Computerprogrammen für die Beantwortung der Frage, ob diese identsich sind (Erwägung 4.c).

A. In der Bundesverwaltung wurde seit dem Jahre 1972 ein Computerprogramm für das Bibliotheks- und Dokumentationswesen entwickelt, das ab 1987 mit „Swissbase“ bezeichnet wurde. Zwecks Vermarktung dieses Computerprogrammes wurde 1987 ein Ausschuss „Swissbase“ gebildet, dem unter anderem die Gesuchstellerin 2 als vorgesehene Exklusivlizenznehmerin und ab Februar 1988 die Beklagte als künftige Unterlizenznehmerin angehörten. Mit Schreiben vom 2. Mai 1989 trat die Beklagte von jeder weiteren Zusammenarbeit in diesem Ausschuss zurück (KB 4). Im Herbst 1989 bot die Beklagte in Zusammenarbeit mit der Firma IBM Schweiz unter der Bezeichnung „Bliss“ ein eigenes Computerprogramm auf dem Markt an, das gleich wie „Swissbase“ in der Programmiersprache „Mumps“ geschrieben ist, und das sich gemäss Prospekt vom 5. November 1989 (KB 5) dazu eignet, „grosse und grösste Datenbestände mit minimalster Struktur effizient zu verwalten“.(…)

Erwägung:

(…)

3. (…)
a) Urheberrechtsschutz geniessen Werke der Literatur und Kunst. Ein urheberrechtlich geschütztes Werk liegt vor, wenn es sich „um eine eigenartige Geistesschöpfung von individuellem Gepräge handelt (BGE 88 IV 126, 77 II 379, 75 II 359/360). Das urheberrechtlich geschützte Werk stellt die Verkörperung einer neuen, originellen, geistigen Idee dar, wobei die Originalität und nicht die Neuheit der Schöpfung entscheidend ist (BGE 105 II 299). Originalität bedeutet, dass ein Werk individuelle, unverwechselbare Züge aufweist. Die Individualität lässt sich mit dem von Kummer entwickelten Merkmal der statistischen Einmaligkeit näher begründen (M. Kummer, Das urheberrechtlich schützbare Werk, Bern 1968, S. 30 f.). Eine urheberrechtlich schützbare Leistung liegt danach vor, wenn die vom Urheber getroffene Lösung kraft seiner persönlichen Leistung einmalig ist, und jeder andere Autor bei derselben Aufgabe zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Im Geiste des Urhebers entstandene Schöpfungen, die zwar von ihm nicht Bekanntem entnommen sind, die aber dem Bekannten so nah sind, dass auch ein anderer die gleiche Form hätte schaffen können, ermangeln der Originalität und Individualität. Die Individualität hängt entsprechend vom Verhältnis der im Geiste des Urhebers geschaffenen zu den aus dem Gemeingut entnommenen Elementen ab (Troller, Immaterialgüterrecht, 3. A., Bd. I, S. 362/363 und 373). Anderseits sind der ästhetische Wert und die Bedeutung das Werkes nicht zu berücksichtigen, und es sind auch an die Originalität keine hohen Anforderungen zu stellen (BGE 110 IV 105 Erw. 2, 106 II 73, 101 II 105, BGE vom 26. Januar 1987 publ. in SMI 1987 S. 81 Erw. 2 mit Hinweisen).

b) Das Urheberrecht gewährt dem Urheber an seinem Werk kein derart absolutes geistiges Eigentum, dass dieses auch alle vom Werk abgeleiteten Phänomene oder die ihm zugrunde liegende Idee als solche erfassen würde. Dem in Art. 15 URG für die Melodienbenutzung enthaltenen Rechtssatz, wonach die Benutzung fremder Melodien frei ist, sofern „dadurch ein neues selbständiges Werk geschaffen wird“, kommt die Bedeutung eines allgemeinen urheberrechtlichen Rechtsgrundsatzes zu (BGE 80 II 129 Erw. 8). Die Abgrenzung von freier und unfreier Werknutzung folgt danach der sog. „Abstandslehre“. Eine freie Benutzung liegt vor, wenn die individuellen Züge des benutz(t)en Werkes angesichts der Individualität des neuen Werkes verblassen (G. Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, 3. A., 1980, S. 276). Demgegenüber lehnt sich der Benutzer bei einer unfreien Nutzung eines fremden Werkes so stark an dessen individuelle Eigenart an, dass diese im umgeformten oder bearbeiteten Werk noch deutlich erkennbar bleibt. Entscheidend ist somit das Mass von Uebereinstimmung und Abweichung zwischen zwei Werken, von denen das eine auf dem anderen aufbaut. Nur wenn die Abweichungen so stark sind, dass das umgearbeitete Werk durch die Umgestaltung eine neue Individualität und damit den Charakter eines selbständigen Werkes erhält, ist der für die freie Werknutzung erforderliche Abstand gewahrt. Dieser lässt sich nur relativ anhand des konkreten Einzelfalles bestimmen. Je einzigartiger die Individualität eines benutzten Werkes ist, umso grösser sind die Anforderungen an den vom Benutzer zu wahrenden Abstand (B. Reinhart, Die Abgrenzung von freier und unfreier Benutzung im schweizerischen Urheberrecht, Diss. Bern 1985, S. 99 f.; M. Altenpohl, Der urheberrechtliche Schutz von Forschungsresultaten, Bern 1987, S. 226 f.).

c) Dahingestellt bleiben kann im vorliegenden Fall, ob, in welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen Computerprogramme (sog. Software) entgegen der Auffassung namhafter schweizerischer Autoren (Troller, a.a.O., S. 356; Kummer, a.a.O., S. 200 f.), aber in Uebereinstimmung mit der Rechtsentwicklung in den meisten Industrieländern sowie mit der jüngeren Schweizerischen Lehre und kantonalen Rechtsprechung (..) und mit dem Vorentwurf III zum neuen URG (Art. 2 Abs. 2 lit. I VE III, BBl. 1989 S. 522/523) unter dem geltenden Recht als urheberrechtlich geschützte, literarische Werke anerkannt sind. Denn aus den nachfolgenden Erwägungen ergibt sich, dass im vorliegenden Fall ein urheberrechtlicher Verletzungstatbestand nicht glaubhaft gemacht ist, selbst wenn davon ausgegangen wird, dass dem Computerprogramm „Swissbase“ der Gesuchstellerinnen Werkcharakter zukommt.

4.a) Die vom Gerichtsexperten durchgeführte Analyse der beiden Computerprogramme hat im wesentlichen ergeben, dass bei den charakteristischen Befehlsfolgen der Quellenprogramme stark überwiegende Unterschiede bestehen. „Bliss“ (ca. 22’100) weist gegenüber „Swissbase“ (ca. 14’200) rund 50 % mehr Programmzeilen auf. Der Vergleich von rund 4’000 Programmzeilen durch den Experten hat ergeben, dass bei lediglich 11,4 % der verglichenen Codes sehr geringe Unterschiede und zum Teil vollständige Übereinstimmung bestehen. Unter Mitberücksichtigung der bei „Bliss“ gegenüber „Swissbase“ erweiterten Datenbank- und Verwaltungsfunktionen (Wortschatz-Informationen, Verwaltung gespeicherter Recherchen, Verwaltung von Stop-Wörtern, ARS/Memo-System) kommt der Experte zu folgender gesamthafter Würdigung:
„Die Eigenleistung von ARS ist in der Neuentwicklung von ca. 95 % der Codes von „Bliss“ (unter Einbezug der erweiterten Funktionalität von 5 %) und in der wartungsfreundlicheren Neustrukturierung der Programmzeilen im Gesamtsystem zu sehen.“
Dementsprechend wertet der Experte die Unterschiede der beiden Quellenprogramme als „stark überwiegend“.
Gestützt auf dieses Ergebnis der Expertise ist von so grossen Abweichungen von „Bliss“ gegenüber „Swissbase“ auszugehen, dass jenes eine neue, eigene Individualität und damit ein selbständiges Werk darstellt. Zwar bestehen beim Systemkonzept und bei den Grundfunktionen nur geringe bis sehr geringe Unterschiede zwischen den beiden Computerprogrammen, doch ist diese Uebereinstimmung weitgehend durch den identischen Zweck der beiden Programme (Datenverwaltung von Bibliotheken und Dokumentationen) sowie durch den Standard der bekannten, auf dem Markt verfügbaren Bibliotheks- und Dokumentationssysteme bedingt. Bei der Umsetzung des praktisch identischen Programmkonzeptes und Programmzweckes hat aber die Gesuchsgegnerin nach den Feststellungen des Experten mit „Bliss“ eine „eigenständige, individuelle Informatikleistung“ geschaffen (act. 186). Soweit Befehlsfolgen aus „Swissbase“ übernommen oder nur geringfügig geändert worden sind, „verblassen“ diese vollständig oder praktisch identischen Programmteile angesichts der eigenständigen Individualität von „Bliss“. Es kann nicht gesagt werden, „Swissbase“ sei in seinen charakteristischen Zügen in „Bliss“ weiterhin deutlich erkennbar.

b) Zusammenfassend liegt somit, unter der Voraussetzung, dass Computerprogramme urheberrechtlichen Rechtsschutz geniessen, bei „Bliss“ eine freie Nutzung von aus „Swissbase“ entnommenen Programmelementen vor, die vom urheberrechtlichen Schutzbereich von „Swissbase“ nicht erfasst wird.

c) Die Gesuchstellerinnen rügen im wesentlichen, der Experte habe die urheberrechtlich entscheidende Identität beider Programme bezüglich „Grundsystem und Basisfunktionen“ nicht beachtet. Ausserdem sei von ihm der Code-Vergleich in fragwürdiger Weise durchgeführt worden, indem er blosse Umstellungen und Aufteilungen identischer Befehlsfolgen oder nur geringfügiger Strukturänderungen nicht als Übereinstimmung gewertet habe.
Dem ist entgegenzuhalten, dass die weitgehende Identität der Grundfunktionen und des Systemkonzeptes beider Computerprogramme durch den übereinstimmenden Zweck bedingt ist. Die für den urheberrechtlichen Schutz entscheidende Gestaltungsfreiheit liegt in der Art und Weise, wie dieser Zweck im Quellenprogramm in Befehlsfolgen umgesetzt wird. Und hier hat die Gesuchsgegnerin nach den Feststellungen des Experten weitestgehend eine eigenständige Programmleistung erbracht. Es verhält sich auch nicht so, dass der Experte die blosse Aufteilung oder Umstellung umfangreicher Programmzeilen von „Swissbase“ überhaupt nicht beachtet hätte. Aus dem Quellenprogrammvergleich (Beilage zur Expertise) geht vielmehr hervor, dass er Identität auch dort angenommen hat, wo einzelne Programmzeilen von „Swissbase“ (rechte Spalte) in „Bliss“ (linke Spalte) bloss unterteilt oder nur teilweise übernommen worden sind.
Die Gesuchstellerinnen machen sodann geltend, die in „Bliss“ enthaltenen zusätzlichen Funktionen erforderten nur einen geringen Programmieraufwand, der nicht dem vom Experten ermittelten Wert von 5 % der gesamten Programmierleistung entsprechen könne. Indessen hat der Experte für die zusätzlichen Funktionen von „Bliss“ rund 1’000 Programmzeilen ermittelt und den Wert von 5 % rein quantitativ bezogen auf den totalen Programmzeilenumfang von „Bliss“ (ca. 22’100) berechnet. Damit bleibt offen, wie die Funktionserweiterung von „Bliss“ in qualitativer Hinsicht zu bewerten wäre. Diese Frage kann dahingestellt bleiben, da der charakteristische Unterschied zwischen „Swissbase“ und „Bliss“ nicht in diesen zusätzlichen Funktionen, sondern in der zu rund 9/10 unterschiedlichen Programmierleistung überhaupt liegt.
Soweit die Gesuchstellerinnen zusätzliche Einzelheiten der Expertise und ihrer Schlussfolgerungen kritisieren, sind ihre Einwendungen nicht geeignet, die schlüssige und widerspruchsfreie Gesamtwürdigung der beiden Computerprogramme durch den Experten in Frage zu stellen. Die beantragte mündliche Erläuterung des Gutachtens ist für das Verständnis der darin enthaltenen wesentlichen Feststellungen und Schlussfolgerungen nicht notwendig.

5. Aus diesen Gründen erweist sich die Annahme einer unfreien und damit urheberrechtlich unzulässigen Benutzung von „Swissbase“ durch die Gesuchsgegnerin im Rahmen der summarischen tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des vorliegenden Verfahrens nicht als begründet. Damit fehlt es an der erforderlichen Glaubhaftmachung urheberrechtlicher Ansprüche der Gesuchstellerinnen und damit an der ersten Voraussetzung für den Erlass vorsorglicher Massnahmen im Sinne von Art. 53 URG.
(…)

Quelle: Urteil
www.softwarevertraege.ch